Probleme mit Lesen und Schreiben - Digitalisierung kann helfen

Häufig Hilfskräfte im Baugewerbe und in der Fertigung betroffen

Probleme mit Lesen und Schreiben - Digitalisierung kann helfen

Ludwigshafen/Mainz (dpa/lrs) - Lesen und Schreiben ist längst nicht für alle Erwachsenen in Rheinland-Pfalz eine Selbstverständlichkeit. Und viele Betroffene verstecken diese Schwäche, meist aus Scham oder aus Angst vor Stigmatisierung. Damit stehen sie in einer zunehmend digitalen Welt - mit Jobportalen, Online-Banking und Fahrkarten-Apps - vor noch höheren Hürden. Erwachsene mit Grundbildungsbedarf hätten oft wenig Erfahrung im Umgang mit Computern und Tablets, berichtet die Stiftung Lesen. Zugleich seien sie sich bewusst, dass ihnen wichtige Kompetenzen fehlten.

Sozial-, Digital- und Weiterbildungsminister Alexander Schweitzer (SPD) verweist auf die Folgen: «Lese- und Schreibkompetenz sind eine zentrale Voraussetzung dafür, uneingeschränkt am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben teilnehmen zu können.» Um Menschen, für die Lesen und Schreiben noch eine Herausforderung sei, fit für den digitalen Wandel zu machen, fördere sein Ministerium auch Kurse zur digitalen Grundbildung.

Das größte Problem sei die gesellschaftliche Diskriminierung der Betroffenen, berichtet Kerstin Goldenstein. Sie gehört dem Vorstand des Dachverbands Alfa-Selbsthilfe mit Sitz in Ludwigshafen an. Der von Spenden abhängige Verein will Selbsthilfegruppen als zentrale Säulen der Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland verankern. Analphabetismus sei nach wie vor ein Tabuthema, sagt die 64-Jährige, die selbst eine Rechtschreibschwäche hatte. Die habe sie während ihres gesamten Berufslebens verheimlicht, erzählt sie. «Man traut sich nicht, davon zu erzählen oder um Hilfe zu bitten.»

Wie viele Menschen in Rheinland-Pfalz nur eingeschränkt oder gar nicht lesen und schreiben können, weiß niemand. Nach Einschätzung des Weiterbildungsministeriums liegt das Bundesland aber im bundesweiten Durchschnitt. «Die Literalitätsstudie Leo der Universität Hamburg von 2018 zeigt, dass die Zahl der erwerbsfähigen Bevölkerung (18 bis 64 Jahre) in Deutschland, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben, bei 6,2 Millionen und 12,1 Prozent liegt», sagt Schweitzer. Obwohl das weniger als bei der ersten Studie aus dem Jahr 2011 seien (7,5 Millionen und 14 Prozent), sei der Anteil der Erwerbstätigen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten von 57 auf 62 Prozent gestiegen.

«Sie sind besonders häufig Hilfskräfte im Baugewerbe und in der Fertigung oder arbeiten als Hilfskräfte und Reinigungspersonal in Büros, der Gastronomie oder Hotels», berichtet Schweitzer. Der Anteil der Männer liegt der Leo-Studie zufolge bei 58,4 Prozent. Etwa die Hälfte seien Muttersprachler.

«Die Digitalisierung hat für Menschen mit geringen oder keinen Lese-Schreibkenntnissen zwei Seiten», sagt Goldenstein. Einerseits biete sie neue, diskrete Möglichkeiten zur Begegnung und zum Lernen. «Andererseits sind die Barrieren, einen Computer nutzen zu können, sehr hoch.» Voraussetzung sei, gut lesen zu können. Verträge, Formulare, Passwörter - das alles seien für die Betroffenen große Hürden. «Man hat Angst, etwas falsch zu machen. Außerdem verfügen viele der Betroffenen gar nicht über die finanziellen Möglichkeiten, sich ein gescheites Laptop oder Smartphone leisten zu können.» Schließlich arbeiteten sie oftmals in schlecht bezahlten Jobs.

Scham und Sorge vor Stigmatisierung hielten aber viele davon ab, Weiterbildungsangebote anzunehmen, sagt Goldenstein. «Die negativen Beurteilungen seit frühester Kindheit, gepaart mit den täglichen Herausforderungen Situationen zu meistern, ohne aufzufallen, haben ihre Spuren hinterlassen. Nicht wenige werden depressiv oder verlieren sich in Sucht.» Gering literalisierten Menschen werde nichts zugetraut. «Sie werden als dumm und faul abgestempelt», sagt Goldenstein. Das beginne bereits in der Schule. «Keiner geht auf ihr Tempo ein.»

Goldenstein fordert mehr sprachliche Frühförderung, Weiterbildungsangebote und Sensibilisierungskurse etwa für Pädagogen. Wichtig seien auch Selbsthilfegruppen, in denen die Betroffenen erlebten, dass sie nicht allein seien und dass sie sich aus ihrer Opferrolle befreien könnten. Bundesweit gebe es derzeit aber nur zehn solcher Gruppen.

Vor allem aber brauche es einen offenen gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Analphabetismus. «Bevor sich die Betroffenen öffnen können, muss sich erst die Gesellschaft öffnen», betont Goldenstein. Erst dann könnten sie den Mut aufbringen, etwas an ihrem Leben zu ändern und feststellen, wie viel sie erreichen und lernen könnten.

In Rheinland-Pfalz wurde vor zehn Jahren die Alpha-Initiative ins Leben gerufen, um durch das Zusammenwirken von Weiterbildungsanbietern und gesellschaftlichen Akteuren möglichst vielen Menschen einen Zugang zu Alphabetisierungs- und Grundbildungsangeboten zu ermöglichen. Mittlerweile unterstützen 48 Institutionen, darunter Kommunale Spitzenverbände, Unternehmervertreter und Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, die Bundesagentur für Arbeit, Kirchen und Weiterbildungsträger die Initiative, wie es im Ministerium heißt.

Bei der Förderung der Menschen setzt die Landesregierung zunehmend auf Lerncafés - niedrigschwellige, kostenlose und offene Angebote unterhalb der Kursebene. «Sie sollen den Einstieg in das Lernen erleichtern, Besucherinnen und Besucher bei individuellen Anliegen und Aufgaben im Bereich Schriftsprache und Grundbildung unterstützen und weitere Lernangebote zum selbstständigen Weiterlernen vermitteln», heißt es im Ministerium. Flankierend würden die Kurse zur digitalen Grundbildung angeboten. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhielten einen Leihlaptop sowie Datenvolumen für die Dauer des Kurses. Ein niedrigschwelliges Angebot zum selbstständigen Lernen bietet der Deutsche Volkshochschul-Verband mit seinem vhs-Lernportal. Die vom Bundesministerium für Bildung geförderte kostenfreie digitale Plattform umfasst eine Vielzahl von Online-Kursen aus den Bereichen Alphabetisierung, Grundbildung und Deutsch als Zweitsprache.

Für Menschen mit geringer Literalität stelle die zunehmende Digitalisierung des Alltags einerseits eine Hürde dar, da das Internet vor allem ein Textmedium sei, sagt Projektleiter Michael Thiel. «Andererseits kann sie ein wunderbarer Türöffner sein.» Beim vhs-Lernportal sei lediglich eine Registrierung nötig, danach könnten sich die Teilnehmer unbeobachtet auf der Plattform bewegen. Das Angebot werde gut angenommen.

Um sich selbst, aber auch die eigenen Kinder zum Lesenlernen zu motivieren, gebe es spezielle Smartphone-Apps, heißt es bei der Stiftung Lesen. «Sie unterstützen etwa mit Sprachausgaben und Schritt-für-Schritt-Anweisungen und helfen so, die eigenen Fähigkeiten zu verbessern.» Das sei wichtig, «da insbesondere in Deutschland die Bildung der Kinder vom Elternhaus abhängig ist».

 

Berichterstattung regional und aktuell aus Koblenz und der Region Mittelrhein.

Datum: 14.12.2023
Rubrik: Bildung
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