Treffpunkt nach der Flutkatastrophe: Jung und Alt im Zirkuszelt

Das Zirkuszelt in Dernau

Treffpunkt nach der Flutkatastrophe: Jung und Alt im Zirkuszelt

Dernau (dpa/lrs) - Am liebsten baut die achtjährige Anna gemeinsam mit ihren Freundinnen Höhlen im Zirkuszelt. Dafür benutzt sie gerne die Tische und Stühle, an denen gerade Irmgard Fisang sitzt und Kuchen isst. Die 85-Jährige kommt einmal pro Woche in das blaue Zirkuszelt in Dernau, dann machen die Seniorinnen und Senioren gemeinsam Gymnastikübungen. Anna kommt fast jeden Tag zum Kindertreff, ihr Bruder Johannes ab und zu. Auch zwei Jahre nach der Flutkatastrophe im Juli 2021 ist das Zirkuszelt der Johanniter-Unfall-Hilfe noch ein Rückzugsort für Jung und Alt.

Es sei die berühmte Schnapsidee gewesen, ein Zirkuszelt aufzustellen, sagte Ingo Carnott, Teamleiter der Fluthilfe der Johanniter im Ahrtal. «Anfangs hat das den Familien natürlich ganz extrem geholfen, weil die Kinder net zwingend da auf der Baustelle rumlaufen mussten oder im Schlamm, der faktisch kontaminiert war.» Die Johanniter bieten wie auch andere Hilfsorganisationen in verschiedenen von der Flut betroffenen Orten Treffpunkte für Betroffene an.

Annas Mutter, Kathrin Gieler, ist froh über das spendenfinanzierte Angebot, das es seit Oktober 2021 gibt. Die Kinder seien gut aufgehoben, sagt sie. «Man muss sich keine Sorgen machen, wenn sie durchs Dorf rumtigern mit den ganzen Baufahrzeugen, die da durch die Gegend cruisen.»

Vom 14. auf den 15. Juli 2021 rissen Wassermassen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen alles mit sich, was ihnen im Weg war. Tausende Häuser wurden zerstört, Straßen und Brücken weggespült. Allein in Rheinland-Pfalz starben mindestens 136 Menschen. In Nordrhein-Westfalen kamen 49 Menschen ums Leben.

Anna und Johannes können sich noch gut an die Nacht erinnern. «Natürlich wusste man zuerst nicht, was los war so richtig, weil alles Schlag auf Schlag ging», sagt der 14-Jährige. Seine Mutter hatte die Kinder damals zu Nachbarn eine Straße höher gebracht - und wurde dann mit ihrem Mann im eigenen Haus vom Wasser eingeschlossen. «Zum Ende hin wusste man ja, dass alles eigentlich gut ist, wenn's Wasser fällt», sagt Johannes. «Aber am Anfang war natürlich die Angst, dass man alles verliert.»

Auch Irmgard Fisang denkt noch jeden Tag an die Flut. Mehr als 40 Jahre hatten sie und ihre Familie zuvor die Tankstelle im Ort betrieben. In der Flutnacht war sie mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter auf dem Speicher des Hauses. «Da war alles voller Wasser. Und ich kann doch nicht schwimmen», sagt die 85-Jährige. Irgendwann seien dann Retter mit einem Hubschrauber gekommen. Doch Fisang weigerte sich zunächst. «Ich fahr net mit. Es ist mir egal, wenn ich sterbe, ich bin 84», erinnert sie sich an ihre Gedanken in der Nacht. Doch ihr Sohn und ihre Schwiegertochter machten es vor und Fisang ließ sich überzeugen, das Haus ebenfalls zu verlassen.

Jetzt, knapp zwei Jahre später, fallen ihr nur wenige Worte ein, um das Erlebte zu beschreiben: «War ganz schrecklich», sagt sie. Rund 90 Prozent aller Menschen in Dernau waren nach Angaben der Stadt von der Flut betroffen. Von 650 Haushalten konnten kurz nach der Flut 570 ihre Wohnungen nicht nutzen. Familie Gieler kann auch fast zwei Jahre noch nicht in ihr Haus zurück - die Versicherung mache Probleme, es gebe Streit um ein Gutachten und damit ums Geld. Deshalb wohnen sie nun in einer kleineren Wohnung.

Zu den Gebäuden, die dem Wasser zum Opfer fielen, gehört die Grundschule. Deshalb wurden die Kinder auf andere Schulen aufgeteilt, darunter auch Anna. Bei der Einschulung sei es komisch gewesen, sagt sie. «Weil da noch andere Kinder waren, die ich nicht gekannt habe.» Mittlerweile seien sie wieder zusammen, bislang aber noch in Containern untergebracht. «Aber für die Kinder ist es eben traurig», sagt ihre Mutter. «Die stehen jeden Morgen an der Bushaltestelle neben ihrer alten Schule, wo sie eigentlich reingehen könnten zu Fuß.»

Für die Älteren hat sich ebenfalls vieles verändert, da sind sich die Seniorinnen beim Treff einig. «Wir hatten so ein bewegtes Leben, weil hier eben auch viel war, Veranstaltungen, es war laufend irgendwas», sagt eine Freundin von Irmgard Fisang, die neben ihr Kaffe trinkt. «Das war ja jetzt zwei Jahre nicht mehr. Jeder auf sich gestellt.» Ein kleiner Lichtblick ist in dieser Zeit das Zirkuszelt. Fisang freut sich immer auf die Zeit im Zelt. Im Zirkuszelt gebe es immer was zu quatschen, sagt sie. «Da ist man nicht alleine. Wir sprechen über allerhand.»

Auch knapp zwei Jahre nach der Katastrophe denken die Menschen im Ahrtal noch oft daran. «Nachts kommt man doch schon ans Grübeln, wie geht es weiter? Naja», sagt Fisang. Auch am Jahrestag ist die Nacht präsent. Fisang wird in die Kirche gehen, eine Kerze für die Verstorbenen anzünden und im Kirchenchor singen.

Familie Gieler wird sich mit anderen Betroffenen zum Gedenken treffen. Für die Zukunft haben sie vor allem einen Wunsch: «Dass unser Haus schnell fertig wird», sagt Anna. «Wir hoffen, Ende des Jahres», sagt Kathrin Gieler. «Also, dass wir Weihnachten, vielleicht, wenn alles gut läuft, Weihnachten schon wieder in unserem eigenen Zuhause feiern können.»

Foto: Thomas Frey/dpa

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Datum: 25.07.2023
Rubrik: Gesellschaft
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